„Ein alter Tibetteppich“ – die sprachliche Genialität (ELS-Teil 4)

„Ein alter Tibetteppich“ – die sprachliche Genialität (ELS-Teil 4)

„Ein alter Tibetteppich“ von Else Lasker-Schüler

„Deine Seele, die die meine liebet
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.

Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.“

Quelle: Demski, Liebesgedichte, S. 77

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Dieses Poem trägt einen sehr ungewöhnlichen Namen für ein Gedicht der Liebe: „Ein alter Tibetteppich“. Ein Tibetteppich ist kein geläufiges Symbol der Liebe, bei dem sofort die Assoziation zu ihr aufkommt, wie bei der Rose oder dem Pfeilschuss Amors; es ist vielmehr ein neutraler Gegenstand. Auch die Funktion eines Teppichs, nämlich die der Dekoration und der Unterlage scheinen kaum eine Verbindung zur Liebe zu haben. Dennoch ist dieses Gedicht wohl sprachlich zu den Besten zu zählen und ist an Kreativität kaum zu überbieten. So lasse man nur mal die folgenden Verse auf sich wirken: „Deine Seele, die die meine liebet, / Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet“ (V.1f.).

„Diese Reime hat es zuvor nie gegeben; man soll sie sich vorsprechen, um ihren Zauber zu hören: „liebet – Teppichtibet“ […] Das klingt nicht wie »Herz – Schmerz« oder »Liebe – Triebe«“[1]. Der faszinierende Klang dieser beiden Verse ist weniger auf die magischen Fähigkeiten und Zauberkünste Else Lasker-Schülers, als auf ihre sprachliche Genialität zurückzuführen. Auch der Inhalt zeugt von der Finesse der Dichterin. Die Botschaft lautet: Wir lösen uns zusammen im Teppichtibet auf, werden eins, verlassen jegliche Umzäunung, Grenzen, die uns einengen und davon abhalten eine unzertrennliche Einheit zu werden.

Im Folgenden wird des Hörers Auge stimuliert, wenn dieser von „[…] verliebten Farben“ (V.3) hört. Eine in der Tat bemerkenswerte Personifikation.
In dem Teppich, dem Ort der Seele der Verliebten, trifft die eine Farbe auf die nächste, geht in sie über und vereinigt sich schließlich mit ihr. Die Vereinigung ist das Ergebnis der Liebe; das Paar wird eins.

Der dritte Vers „Strahl in Strahl, verliebte Farben“ (V.3) erweitert das Spektrum der Liebenden, verweist auf die „Strahl in Strahl“ überlaufenden Maschen des Teppichs, um damit die Kraft der Farben, welche Symbole der Liebe sind, zu unterstreichen. Diese sind wie Sterne, die unermüdlich leuchten, wie auch die Liebe zueinander niemals erlischt.

Diese Leuchtkörper des Kosmos strahlen sich an und dies ist der Ausdruck dessen, dass sie einander „[…] himmellang umwarben“ (V.4). Die „Kostbarkeit“ (V.5) spiegelt die wundervollen Gefühle wieder, die durch die Füße empfunden werden. Der Zauber, der durch eine Berührung entsteht, ist nicht zu unterschätzen, vor allem dann nicht, wenn diese an den Füßen erfolgt. Diese sind bekanntlich mit abertausenden Reizzentren ausgestattet und aus diesem Grund zählt man die Füße zu den erogenen Zonen des Körpers. Gewiss spielt dabei auch die wohlige Wärme, die durch eine Berührung der Füße des Partners auf die Geliebte übertragen wird, eine bedeutende Rolle in der Sinnlichkeit der Liebenden.

Bemerkenswert ist weiterhin der folgende Vers: „Maschentausendabertausendweit.“ (V.6). Ein äußerst ungewöhnlicher Neologismus, welcher aus fünf Wörtern besteht. Würde man das Wort in Einzelwörter unterteilen, so ergäbe sich folgender Satz: „Maschen tausend, aber tausend weit.“. Erneut ist hierbei eine Kräftigung der Aussage der Einheit zu hören, denn die Maschen, die zu Tausenden die Bindung der Seelen zueinander herstellen, sind weit mehr als eine lose Bindung. Sie stellen vielmehr eine unzertrennliche Gemeinschaft des Paares dar. Die Maschen die in luxuriösen Teppichen verwoben sind, übersteigen meist die Tausendergrenze. Dadurch stechen diese durch ihre starke Handfestigkeit und sehr lange Lebensdauer hervor. Auch das Gefühl, wenn man mit den Füßen auf diesen läuft, ist wundervoll, da auch das Material der Seide den tausenden Maschen zugutekommt. „Und endlich wird der sinnlichste Sinn, der Geruch geweckt, denn er ruft am nachhaltigsten die Erinnerung an unvergessene Menschen und Situationen wach. Der Moschuspflanze entströmt ein Duft, der zu den verführerischsten Reizen des Orients zählt.“[2]

Ein gutes Gedicht kann man daran erkennen, dass es so viele Sinne wie nur möglich anspricht: Seh-, Tast-, Geruch-, Hör- und Geschmackssinn. Hier sehen wir einige sehr gute Beispiele hierfür, so wird der Geruchssinn im siebten Vers durch „Moschuspflanzentron (sic!)“ angeführt, ebenso der Sehsinn im dritten und vierten Vers, der Tastsinn im fünften Vers und der Geschmackssinn in dem vorletzten Vers: „Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl“ (V.8). Diese Emotionen verbindet der Hörer nun mit dem Gedicht, und wird, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt diesem Poem lauscht, diese Gefühle wieder aufwallen sehen. Außerdem erinnert sich ein Mensch an ein Ereignis oder eine Erfahrung um weiten besser, wenn dieses mit schönen Gefühlen assoziiert wird.

Des Weiteren wird verdeutlich, wie nahe sich die Geliebten sind, denn dieser Zustand besteht seit „buntgeknüpfte[n] Zeiten schon.“ (V.9). Wiederholt taucht die Farbsymbolik, so ist die Zeit „buntgeknüpft“ – dem Hörer wird dadurch ein kreatives, farbenfrohes und inniges Bild in den Kopf gezaubert. Doch wer ist der Adressat? Welcher Mann verdient solch ein liebenswürdiges Gedicht, welches noch dazu eines der Vorzeigegedichte seiner Zeit war? Eine genaue Aussage kann man nicht treffen, dazu diente auch Else Lasker-Schülers Verwendung von mysteriösen-orientalischen Bezeichnungen für die Geliebten ihrer konstruierten, fantastischen und geheimnisvollen Orientwelt von Theben. „Das geliebte Wesen, dem die Verse gelten, ist der Sohn eines Zauberpriesters, der wohl nur durch Fabelei und Zauberkünste zu gewinnen ist; das liebende Wesen ist eine Frau.“[3]. Bei dieser Frau muss es sich wohl um Else Lasker-Schüler handeln, da diese so gut wie alle ihre Liebschaften in kodifizierter Form in Gedichten wiedergab. Auch ist die Ich-Form ein Indiz für das Lyrische-Ich / Autor Gleichnis.

[1] Rüdiger, H., In orientalischer Verkleidung, in: M. Reich-Ranicki (Hg.), 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Theodor Fontane bis Else Lasker-Schüler, Frankfurt am Main 2002, S. 460

[2] Rüdiger, In orientalischer Verkleidung, S.461

[3] Rüdiger, In orientalischer Verkleidung, S.462

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