Schuldige Gläubiger und gläubige Schuldner

Als Herr Karayaprak sein Lebensmittelgeschäft nach Sonnenuntergang abschloss, bemerkte er, dass der erste Buchstabe seiner Leuchtreklame über der Eingangstür nur noch teilweise funktionierte. Es war nur noch ein leichtes Flackern in der Dunkelheit zu erkennen. Einen Moment lang starrte er die kaputte Reklame an und wendete sich mit einem Seufzer wieder dem Schloss zu. Der in der Türkei geborene Lebensmittelhändler drehte den Schlüssel, der bereits im leicht rostigen Schloss steckte, um, zog ihn heraus und lief mit müden Schritten nach Hause. Seine Frau und Kinder warteten bereits auf ihn. Herr Karayaprak war vor 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gezogen und hatte gegen den Rat seiner Eltern, mit ein wenig angespartem Geld, einen Lebensmittelladen eröffnet. Die ersten Jahre in denen das Geschäft gut lief waren längst vorbei.
Herr Grünlich fuhr auf den Parkplatz seines Einfamilienhauses und stieg gerade aus, als ihm sein Sohn bereits rennend entgegen kam. Mit dem Jungen auf dem Arm begrüßte er seine Frau und wollte mit den guten Neuigkeiten nicht mehr länger warten. Der Kunde, den er an Land gezogen hatte, bestellte gleich die doppelte Menge an Farbstoffen und sicherte somit Herr Grünlich eine Bonuszahlung. Beim Anstoßen mit seiner Frau dachte er darüber nach, wie weit er es, Dank dem guten Rat seines verstorbene Vaters, noch bringen würde. Der Vater Herrn Grünlichs war ein eifriger Sparer gewesen, und obwohl Herr Grünlich gegenüber seiner Familie immer sehr spendabel gewesen war, verstand er durch den Rat seines Vaters, das Beste aus seinem bei der Bank liegenden Geld zu machen.
Für Herr Karayaprak stand ein Termin bei der Bank an. Seit knapp sechs Monaten konnte er nur noch die Zinsen seines Kredits tilgen und war mit den Zahlungen in Verzug geraten. Seiner Familie gegenüber ließ er sich die finanzielle Lage nicht anmerken, und so kaufte er seinen Kindern bei jeder Gelegenheit tolle Spielzeuge und teure Geschenke für seine Frau.
Der Bankier begrüßt Herr Karayaprak an seinem Tisch mit einem kurzen Handschlag. Nachdem die beiden sich gesetzt hatten regnete es nur noch rote Zahlen und eins wurde klar: Das Geschäft wird verkauft und die Zukunft wird ungewiss sein. Trotz harter Arbeit und vielen Stammkunden konnte das Lebensmittelgeschäft gegen die Konkurrenz der Supermärkte und steigende Einkaufspreise nicht ankommen. Die Kredite die Herr Karayaprak über die Zeit aufgenommen hatte, weil ihm das Geld nicht reichte, wurden zur Last, und so musste er bei sinkender Tilgung mehr Zins zahlen.
„Wohin fließt mein Geld, wenn die Banken wegen Zahlungsunfähigkeit in die Krise geraten?“, fragte er sich als er die Bank verließ während ihm ein Mann in Anzug und Krawatte, der gerade die Bank betrat, die Tür aufhielt.
Nach einem ausgiebigen Frühstück mit seiner Frau – die Kinder waren schon in der Schule – trat Herr Grünlich den Weg zur Bank an. Ein neues Haus sollte es sein, etwas geräumiger, und eine Garage sollten es werden. Beim Betreten der Bank hält er einem etwas bedrückt aussehenden Mann die Tür auf. Sein eigenes Glück hatte ihn so erfasst, dass er fast überrascht war, einer Person zu begegnen, die nicht überglücklich war. Der Gedanke verflog beim Anblick seines Freundes, der bei der Bank für ihn zuständig war, jedoch schnell. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Nachdem die Wahl des Hauses auf zwei Objekte reduziert wurde und die Entscheidung daraufhin auf die nächste Woche verschoben wurde, folgte ein Gespräch mit privatem Inhalt über die Kinder, das neue Motorrad des Bankiers und über moderne Anlagemöglichkeiten.
Wie sollte nur Herr Karayaprak die Nachrichten seiner Frau übermitteln? Fast schon verzweifelt begab er sich zu seinem Geschäft, bei dem der erste Buchstabe des Schriftzugs über dem Laden immer noch schwach flackerte. Er setzte sich hinter die Kasse und vergrub die Hände ins Gesicht.
„Lass mich heute Abend kochen“, bat Herr Grünlich seine Frau per SMS. Er wollte sie mit dem anatolischen Auflauf überraschen, den er heimlich für sie geübt hatte. Um die Zutaten zu finden fuhr er nach dem Besuch bei der Bank zum nächsten Lebensmittelgeschäft, da normale Supermärkte diese speziellen Zutaten nicht führten. Mit dem Türklingeln betrat er den Laden, der fast leer schien.
„Entschuldigen Sie.“, sprach er den Verkäufer an der Kasse an und erkannte sofort den Mann, den er zuvor bei der Bank gesehen hatte, „Ich suche… – Habe ich sie nicht gerade in der Bank gesehen?“
„Ja, ich war auch bei der Bank.“, antwortete der Verkäufer kurz, „Was genau suchen Sie?“
Herr Grünlich kramte den Einkaufszettel aus der Tasche hervor und las ihn vor. Sofort lief Herr Karayaprak los und sammelte zusammen, was Herr Grünlich brauchte und legte ihm noch eine Packung Tee auf Empfehlung mit in die Einkaufstüte. Nachdem Herr Grünlich bezahlte machte er sich auf den Weg zum Ausgang.Als er schon fast wieder an der Tür ankam, drehte er sich um und fragte: „Warum sahen Sie heute so bedrückt aus, als die Bank verließen?“
Etwas verdutzt über die Frage, antwortete Herr Karayaprak nach kurzem Überlegen: „Weil sie bald Ihre anatolischen Lebensmittel nicht mehr hier einkaufen können. Die Bank hat mir die Zinsen erhöht.“
Herr Grünlich verstand in seinem positiven Gedankenkonstrukt zunächst nicht, was an erhöhten Zinsen schlecht sein sollte, aber dann war es ihm klar. Der Betrag an Zinsen, den er jetzt zusätzlich bekam, musste der Lebensmittelverkäufer an die Bank zahlen.
„Was für ein absurdes System!“, dachte sich Herr Grünlich. Da musste der, der kein Geld hat, weil er kein Geld hat, dem der Geld hat, weil er Geld hat, Geld geben. Da kam ihm eine Idee.
„Können Sie sich morgen um zehn Uhr mit mir bei der Bank treffen, ich möchte etwas mit Ihnen und meinem Freund, der dort arbeitet, besprechen.“ Herr Karayaprak war über dieses Angebot seines Kunden genauso verwundert, wie über die vorangehende Frage. Trotzdem nahm er den Vorschlag an.
Am nächsten Tag, pünktlich um zehn Uhr, saßen die beiden bei dem mit Herr Grünlich befreundeten Bankier, der über den gleichzeitigen Besuch der beiden so unterschiedlichen Kunden mindestens genauso überrascht war, wie Herr Karayaprak am Tag zuvor.
„Was kann ich für Sie beide tun?“, fragte er neugierig.
„Ich möchte,…“, übernahm Herr Grünlich das Wort, „…dass sie die Zinsen die sie mir zahlen, Herr Karayaprak hier von den Zinsen die er zahlt, zurechnen.“ Unsicher, ob er die Aufforderung richtig verstanden hatte, wollte der Bankier nochmal nachfragen, aber Herr Grünlich war schneller. „Sie überweisen Herr Karayaprak die Zinsen, die sie mir ausgezahlt hätten, so, dass er seine Tilgung ohne Zinsen fortsetzen kann und keine Zinsen mehr zahlen muss.“
„Das ist natürlich möglich, aber…“, versuchte der Bankier einzuwenden.
Chancenlos.
Herr Grünlich war überzeugt, dass dieses Zinssystem nicht gerecht funktionierte – die Frage war nur: „Welche Alternative haben wir?“
Eine Antwort
Den Nagel auf den Kopf getroffen, „.., weil er kein Geld hat, dem der Geld hat, weil er Geld hat, Geld geben.“ dutzende Vorlesungen erklären mir diesen Satz nicht ansatzweise so übersichtlich wie diese Geschichte.
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