Willst Du die Welt sehen, so reise nach Istanbul

Rezension: Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt
In Kürze:
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- Die renommierte Historikerin Bettany Hughes gewährt in ihrem Buch „Istanbul – Die Biographie einer Weltstadt“ einen detailreichen Einblick in die Kultur und Geschichte der wunderschönen Metropole am Bosporus. Die Biographie des historischen Schmelztiegels zahlreicher Großmächte ist jedoch viel mehr als eine bloße Erkundung. Sie ist zugleich eine Reise durch die Weltgeschichte, die der Frage nachgeht, weshalb Istanbul zu Recht den Titel „Weltstadt“ tragen darf.
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- Das 928-seitige Buch, unterteilt in acht Teile und in 78 Kapitel, wurde aus dem Englischen von Susanne Held übersetzt und im Klett-Cotta Verlag im Oktober dieses Jahres veröffentlicht. Es ist für 35 Euro hier erhältlich.
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- Außerdem haben wir 3x dieses fantastische Buch auf unserer Facebook-Seite verlost.
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Die Autorin

Abbildung 1 – Bettany Hughes in Istanbul, Bild aus ihrer Website
Die Autorin Bettany Hughes, geboren 1967, ist eine renommierte Historikerin und Spezialistin im Gebiet der Griechischen Antike und der Mittelaltergeschichte. Sie ist die Verfasserin des Buches „Helen of Tory: Goddess, Princess, Whore“ und des auf der „The New York Times“ Bestsellerliste erschienen Buches „Hemlock Cup: Socrates, Athens and the Search for the Good Life“. Sie ist Wissenschaftlerin an der „Oxford University“, am „King’s College London“ und Tutorin am „Cambridge’s Institute of Continuing Education“. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, arbeitet Bettany Hughes an vielen Sendungen und Dokumentationen für BBC, Channel4, Discovery Channel, um einige zu nennen. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Awards und Preisen gewürdigt, unter anderem durch die „Naomi Sargant“ und „Norton Medlicott Medal for History“. Sie ist Mitglied im Ausschuss des „World Women Committee“ und widmet in ihren Arbeiten große Beachtung der Frauenpositionen in der Gesellschaft.
BEREITS IN DER ANTIKE EINE BEGEHRTE PERLE
Die Biographie beginnt mit den zahlreichen archäologischen Funden aus dem Altertum. Die Funde deuten darauf hin, dass bereits vor der Ansiedlung der Griechen Menschen am Bosporus lebten und dass dereinst der Bosporus ein Festland war. Durch den globalen Anstieg des Meeresspiegels gegen 6000 v. Chr. brach das Mittelmeerwasser in das damalige Binnengewässer des heutigen Schwarzen Meeres ein, wodurch die Meerenge Bosporus entstand.
Mit der Bildung des Bosporus‘ wurde bereits in der Antike die inzwischen von den Griechen „Byzantium“ getaufte Siedlung ein begehrenswertes Objekt. Der Grund dafür war seine geographische Lage zwischen dem Bosporus, dem Goldenen Horn und dem Marmarameer. Umgeben von diesen Gewässern galt der Ort als sicher vor militärischen Angriffen und Belagerungen – daher wurde Byzantium zum Prestigeobjekt zahlreicher Kriegstreiber und Demagogen. Mit jeder Eroberung Byzantiums wurde ein Teil der Stadt zerstört und neu gebaut. Mauer um Mauer vergrößerte sich Byzantium und war nicht mehr eine von vielen unbedeutenden griechischen Siedlungen am Bosporus, sondern „ein Diamant zwischen zwei Saphiren.“ (Hughes 2018, S.13).
Eine Karte der Gewässer, die Konstantinopel umgeben, gibt es hier.
EIN SCHMELZTIEGEL DER KULTUREN
Doch Bettany Hughes verkennt nicht, dass die Stadt der drei Namen – Byzantium, Konstantinopel und Istanbul – mehr als nur ein Objekt militärischen Begehrens und die Bühne großer politischer Ereignisse ist. Mit großer Leidenschaft und detailverliebt beschreibt Bettany Hughes, dass diese Stadt im Hellenismus, im Römischen Reich, im Byzantinischen Reich und im Osmanischen Reich die Heimat vieler Glaubensvorstellungen, Kulturen, Ethnien und Ideen war. Araber, Türken, Kurden, Armenier, Griechen, Römer, Wikinger, Sinti und Roma, Mongolen, Vandalen, Goten, Venezianer, Genuesen, Pisaner, Awaren, Bulgaren, Serben, Bosniaken, Heiden, Juden, Christen, Muslime und viele mehr – sie alle beeinflussten ein Teil Konstantinopels und machten diesen Ort zum Schmelztiegel der Welt – und nicht wie so oft behauptet zum Gegensatz zwischen West und Ost, Okzident und Orient, Christ und Muselman.
Abbildung 3 – Ortaköy-Moschee von Serhinho
So bildeten heidnische Waräger, eine Teilgruppe der Wikinger, im 10. Jahrhundert die Leibgarde des byzantinischen Kaisers. Heidnische und christliche Glaubensvorstellungen koexistierten über Jahrhunderte nebeneinander und vermischten sich in Folge dessen. Es ist sogar wahrscheinlich, dass der 25. Dezember, an dem noch heute der Geburtstag des Propheten Jesus gefeiert wird, am heidnischen Feiertag des Sonnengottes Sol Invictus angelehnt ist. Juden, die im christlichen Spanien im Zuge der Reconquista von der iberischen Halbinsel vertrieben worden sind, nahm das Osmanische Reich wohlwollend auf. Dort lebten sie so sicher wie sonst an keinem Ort in Europa und konnten kulturell, religiös und ökonomisch prosperieren. Es waren Armenier, die wirtschaftlich und kulturell zur Elite des Osmanischen Reiches gehörten und unter anderem die berühmte Ortaköy-Moschee konzipiert haben. Wegen der sogenannten Knabenlase war es für Christen aus dem Balkan sogar möglich, als Janitscharen auch zur militärischen und bürokratischen Elite des Osmanischen Reiches zu avancieren.
DIE STIMMEN DER STIMMLOSEN
Mit großer Akribie beschäftigt sich das Buch mit Anekdoten, Mythen und Legenden, die den Zeitgeist der Gesellschaft auffängt. Eunuchen, Frauen, Sklaven und all jene, die keinen Platz auf der politischen Weltbühne fanden, erzählen in diesem Buch ihre Geschichten.
Kaukasische Sklaven wurden über das Schwarze Meer nach Konstantinopel transportiert und dort bis zum 19. Jahrhundert in alle Richtungen weiterverkauft. Sklaverei verstand sich damals nicht als Barbarei, sondern als eine jedem Volk selbstverständliche Begebenheit. Sklaven selbst boten sich freiwillig zum Verkauf an, um beim gehobenen Volk Konstantinopels im Schreiben, Lesen und höflichen Benehmen unterrichtet zu werden. Dies ermöglichte den Sklaven, nachdem sie sich in späteren Jahren freigekauft hatten, eine eigene Karriere in Konstantinopel aufzubauen. Der gesellschaftliche Aufstieg stand jedem offen.
Frauen, wie Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin des Großen; Nurbanu, die Mutter des osmanischen Sultans Murad III.; Theodoa I., Ehefrau des byzantinischen Kaisers Justinian; Hypatia, eine heidnische Berühmtheit in Alexandria und viele weitere große weibliche Persönlichkeiten werden im Buch ausführlich beleuchtet. Immer wieder kristallisiert sich ein beständiges Muster heraus: Frauen, die in der Nähe zur Macht stehen, üben selbst Macht aus. Nurbanu ließ in ihrer Position als Mutter des Sultans mehrere architektonisch komplexe Bauten erbauen, wie Moscheen, Bibliotheken und Bäder. Zudem war sie wegen ihrer venezianischen Herkunft in der Außenpolitik dafür berüchtigt, Venedig gegenüber den Handelsstätten Pisa und Genua zu bevorzugen. Hypatia, eine Philosophin, Mathematikerin und Astronomin, war eine der führenden Gelehrtinnen und Wissenschaftlerinnen in Alexandria. Leider fand sie ihr tragisches Ende im 5. Jahrhundert n. Chr., als christliche Fundamentalisten sie ermordeten.
Aber auch Eunuchen, wie der Großeunuch Kızlar Ağası, waren nicht nur gewöhnliche Diener des osmanischen Sultans gewesen, sondern bekleideten hohe Ämter und dienten als Regenten, die die Moscheen und deren Einkünfte in Medina, Mekka und Jerusalem verwalten durften.

Abbildung 4 – Map of the island of Constantinople (mod. Istanbul), created in 1597 by the Venetian Giacomo (Jacomo) Franco (1550-1620) for his book Viaggio da Venetia a Constantinopoli per Mare.
FOKUS AUF HELLENISTISCHE UND RÖMISCHE PHASE
Wer sich daher nur für die großen politischen Ereignisse Istanbuls interessiert, wie den Peloponnesischen Krieg, den Griechisch-Persischen Kriegen, der Eroberung Konstantin des Großen, der Eroberung Sultan Mehmed II., den Kreuzzügen oder der Schlacht an den Dardanellen im Ersten Weltkrieg, wird in eher kleinerem Ausmaße fündig. Auch hierzu gibt es an manchen Stellen interessante und wichtige Details, die mancherlei verzerrte Sichtweisen zurechtrücken, insbesondere zum Kreuzzug. Dieser war nicht nur ein Marsch von christlichen Soldaten, die Lanze, Schwert und Rüstung aus Stahl trugen, sondern auch ein Marsch der einfachen Frauen, verwahrlosten Männer, Kinder und all jener, die aufgrund ihrer prekären Situation im Abendland durch den Kreuzzug einen Neubeginn im Morgenland erhofften.
Doch die Detailliebe von Bettany Hughes, die sich klar im hellenistischen und im römischen Zeitalter erkennen lässt, misst man im osmanischen Zeitalter. Zu wenig Aufmerksamkeit wurde dem Ersten Weltkrieg und seiner kulturellen Vorgeschichte gewidmet. Das Osmanische Reich strebte seit mehr als einem Jahrhundert seinen Niedergang durch Reformen in militärischen, justiziellen, staatlichen und kulturellen Bereichen nach europäischem Bilde aufzuhalten, doch vergiftete sich letztlich an der politischen Ideologie des Nationalismus im 19. Jahrhundert angeführt von der Partei der Jungtürken.
Mit Wehmut lest sich das Ende des Buches. Der einstige kosmopolitische Geist und die einstige ethnische Vielfalt Istanbuls ging durch die Zerstörung des Ersten Weltkrieges verloren. Griechen und Armenier wurden wegen des Nationalismus vertrieben und getötet. Später, Jahrzehnte später, wurden die Verbliebenen dieser ethnischen Gruppen systematisch diskriminiert, sodass sie heute kaum mehr eine gesellschaftliche Rolle spielen. Die Vielfalt, die im Osmanischen Reich geschätzt und kultiviert wurde, versuchte die türkische Republik mit einer einheitlichen türkischen Identität zu ersetzen. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten bleiben so ungewürdigt. Und die Stadt selbst vergisst sukzessiv ihre kosmopolitische Vergangenheit. Jene Historie und Relikte Istanbuls, die ihr mit großem Respekt den ehrwürdigen Titel „Weltstadt“ verleihen.
Abbildung 5 – Blick auf Hagia Sophia und Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul von Julian Nyča, CC-BY-SA 3.0.
EIN JUWEL FÜR GESCHICHTSVERNARRTE
Fazit: Für Architekten, Künstler, Soziologen, Kulturwissenschaftler und jene, die sich mit Freude stundenlang in einem Museum verlieren können, ist das Buch eine wahre Fundgrube. Wer mehr als nur die Top-Ten der Sehenswürdigkeiten Istanbuls sehen möchte, sich für die maroden und vernachlässigten Narben der Weltmetropole interessiert, dem sei dieses Buch empfohlen. „Istanbul kennen heißt wissen, was es bedeutet, Kosmopolit zu sein. Diese Stadt erinnert uns daran, dass wir tatsächlich Weltbürger sind.“ (Hughes 2018, S.732). Denn Istanbul ist die Welt. Und die Welt ist Istanbul.